Die Bodenseetagung 2018 in St. Gallen widmete sich dem Thema Soziale Arbeit 4.0. Inwieweit ist die Entwicklung Sozialer Arbeit durch die „Digitalisierung“ geprägt und bestimmt?

Im Rahmen der Tagung fanden Fachgespräche mit den Referentinnen und Referenten der Tagung statt. Hier das Gespräch mit Reto Eugster, leicht gekürzt.

Soziale Arbeit 4.0, was bedeutet das für dich?

Reto Eugster: Diese Zählweise ist in Bezug auf Soziale Arbeit unergiebig. Damit werden die drei industriellen Revolutionen bezeichnet, Mechanisierung, Massenfertigung und Informatisierung. Unter dem Begriff der „vierten industriellen Revolution“ schliesslich ist Unterschiedliches subsumiert und die Aussagen sind vage. Zudem kann argumentiert werden, dass die wesentlichen Grundlagen der aktuellen Umwälzung bereits im Verlauf der dritten Revolution entwickelt wurden. Und es geht um Jahrhundertsprünge. Für die meisten Fragen, die sich der Sozialen Arbeit heute stellen, ist der analytische Wert eines solchen Epochenmodells fraglich.

Ist Soziale Arbeit nicht ständig mit gesellschaftlichem Wandel konfrontiert?

Reto Eugster: Diesem Argument kann ich einiges abgewinnen. Dass sich Soziale Arbeit im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen verändert, ist kein Spezifikum aktueller Verhältnisse, sondern unvermeidlich und in ihrer Funktion angelegt. Besonders ist aber, wie offensichtlich die Technologiegetriebenheit gesellschaftlicher Entwicklung geworden ist.

Welche Herausforderungen bestehen aus Ihrer Sicht für die Soziale Arbeit?

Reto Eugster: Die Soziale Arbeit ist zweifach herausgefordert. Einerseits verändern sich Formen der Alltagsbewältigung grundlegend. Davon sind die Zielgruppen Sozialer Arbeit angesichts ihres oft prekären Alltags in besonderem Masse betroffen. Anderseits erleben wir gerade, wie sich Erwartungen an Organisation und Dienstleistung Sozialer Arbeit umzuwälzen beginnen. Diesbezüglich stehen wir am Anfang einer Entwicklung. Beispiel Blended Counselling: In der Schweiz ist vielen Expertinnen und Experten der Sozialen Arbeit klar, dass sich Beratungsangebote verändern werden, verändern müssen. Die Zugänge zu diesen Angeboten sind tendenziell zu hochschwellig, die Sigmatisierungsrisiken zu unberechenbar usw. In Fachkreisen entwickelt sich Nervosität. Das ist gut so.

Ist Soziale Arbeit dem gewachsen?

Reto Eugster: Ich denke schon. Sie hat sich historisch betrachtet als äusserst wandlungsfähig gezeigt. Aber, und das vermag nicht zu überraschen: Soziale Arbeit wird einem stärker werdenden Veränderungsdruck ausgesetzt sein und dies an Orten, an denen wir es nicht erwarten.

Soziale Arbeit 4.0: Was wird besser?

Reto Eugster: Für mich geht es nicht primär um die Frage, ob etwas besser wird und folglich auch nicht um die Frage, was besser werden könnte. Die Soziale Arbeit wird nicht umhinkommen, Umwälzungen lebensweltlicher Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren, einfach, um überhaupt dem Auftrag und schliesslich ihrem Anspruch gerecht werden zu können. Es geht nicht um die Eleganz des Abwägens: Sollen wir mitmachen oder nicht, wollen wir „Digitalisierung“ oder nicht? Soziale Arbeit kann sich nicht losgelöst von dieser Entwicklung verorten. Sie wird sich in ein Verhältnis dazu definieren und reformulieren müssen.

Was hat Soziale Arbeit zu befürchten?

Reto Eugster: Es ist zu befürchten, dass die Frage nach den Befürchtungen weiterhin im Mittelpunkt steht. Es ginge aber darum, Potenziale zu entwickeln, und zwar im Hinblick auf die genuin sozialarbeiterische Perspektive. Zwei Fragerichtungen drängen sich auf: Wie kann Soziale Arbeit soziotechnische Entwicklungen nutzbar machen? Wie kann technologieinduzierten Risiken sozialarbeiterisch begegnet werden?

Muss sich die Soziale Arbeit angesichts dieser Entwicklungen wieder stärker ökonomisch ausrichten? 

Reto Eugster: Möglicherweise ist es Kennzeichen einer Sozialen Arbeit 4.0 – und das sage ich nicht ohne Süffisanz –, dass sie sich ihre Stich- und Reizworte nicht mehr von Managementtheorien, sondern von kollaborativen, nischenartigen Zirkeln technologischer Entwicklung besorgt. Unfreundlicher formuliert: Die Orientierung an ökonomischer Trivialmechanik hat sich für die Soziale Arbeit nie bewährt. Zu unabsehbar ist im Zuge der Ökonomisierung das Risiko der Selbsttrivialisierung.

Foto: Podium an der Bodenseetagung 2018, von links nach rechts, Reto Eugster, Roger Märkli, Sarah Genner, Menno Labruyère (Moderator); Foto von der FHS St. Gallen zur Verfügung gestellt (Dank an Stefan Ribler).