Bücher, Aufsätze, Referate: Wir fassen zusammen, merken uns das Wichtigste, speichern Notizen in irgendwelchen „Wolken“. Längst haben wir uns damit abgefunden, mit einem unüberschaubaren Stapel aus Notizen zu leben oder wenigstens zu funktionieren. Ein Beitrag über lernwirksame Strategien im Umgang mit dieser Situation und über ein neues Tool für das Personal Knowledge Management, Obsidian.md.

Update: Direkt zum Obsidian-Video, eine Starthilfe

Von Reto Eugster

Das Problem kennen vermutlich viele, die sich mit Wissensarbeit beschäftigen. Man liest Texte oder hört Referate und will sich die „wichtigsten“ Inhalte merken. Also beginnt man, Zusammenfassungen zu schreiben. In der Regel werden damit zwei Ziele verfolgt:

  • Die bemerkenswerten Inhalte sollen einen künftig wieder zur Verfügung stehen, und zwar genau dann, wenn man sie braucht.
  • Der Tätigkeit des Zusammenfassens wird ein Lerneffekt zugeschrieben.

Doch beide Ziele verweisen ins Zufällige und sind enttäuschungsanfällig. Erstens ist es schwierig, sich so zu organisieren, dass einem der gewünschte Inhalt jeweils zeitlich und sachlich punktgenau zur Verfügung steht. Wenn dies gelingt, gelingt es häufig zufällig, ist aber keinem überzeugenden methodischen Setting geschuldet. Die permanente „Flutung“ mit Wissenspartikeln in der Wissensarbeit überfordert viele, jedenfalls mich. Zweitens schreiben Lerntheorien dem „linearen Zusammenfassen“ kaum Lernwirksamkeit zu.

Haben wir viel Zeit damit vergeudet, den „Informationsfluten“ mit untauglichen Mitteln zu begegnen?

Wenn ich Studierenden beobachte, sehe ich, wie sie geschätzte 90 Prozent der Verarbeitungszeit für das Zusammenfassen von Referaten und Texten verbringen, 7 Prozent mit der Bewältigung technischer Unwägbarkeiten und 3 Prozent mit der so genannten Verschlagwortung ihrer Notizen. Die Zahlen entspringen keiner wissenschaftsfähigen Evaluation, sind blosse Schätzwerte, repräsentieren nur gerade meinen Eindruck.

Aber wie sieht demgegenüber eine lernwirksame Verarbeitung von Texten aus? In einem Satz: Nicht um das lineare Zusammenfassen, sondern um die aktive Aneignung des Inhalts geht es. Für die Gestaltung dieses Aneignungsprozesses drängt sich das folgende methodische Setup auf:

  1. Studien zeigen, dass die Lerneffekte besser werden, wenn sich die Lernenden ihres Erkenntnisinteresses in einer frühen Phase des Lernprozesses gewahr sind. Selbstvergewisserung heisst das Stichwort. Mache dir im Zuge der Annäherung an den Text (Buch, Referat) bewusst, was deine erkenntnisleitenden Fragen an den Text sind. Nur so kannst du von Antworten auf nicht gestellte Fragen überrascht werden.
  2. Experimentiere beim Erstellen der Notizen mit eigenen Formulierungen. Die Verarbeitung soll im Modus der Experimentalität stattfinden. Wage die Abweichung vom Sound des Originals. Dies bedeutet übrigens nicht, auf Zitate zu verzichten.
  3. Kommentiere die Inhalte, die du liest oder hörst extensiv, direkt in deinen Notizen, und zwar immer wieder, wenn du ihnen begegnest. Es soll eine Kommentar-History entstehen, so dass du auch deine Entwicklung bei der Auseinandersetzung mit der Notiz nachvollziehen kannst.
  4. Schenke dem Verknüpfen deiner Notizen, von aktuellen mit vorgängigen usw., viel Aufmerksamkeit und Zeit. Lass dich von inhaltlichen Verbindungen und Verweisen überraschen, von der Kombinatorik des Zufalls, die du bei dieser Arbeit erlebst. Dann wirst du für das Verfassen der Notizen beispielsweise 30 Prozent, für das Kommentieren wiederum 30 Prozent und für das Verknüpfen 40 Prozent der Zeit aufwenden. Wenn möglich, visualisiere dein „Wissensnetzwerk“ mit einem Knowledge Graph.

Erwartungsgemäss ist das Angebot an Werkzeugen gross, die den beschriebenen Prozess der aktiven Wissensaneignung unterstützen. Wer es mit seinen Anforderungen aber genau nimmt, macht die Erfahrung, dass sich die Palette rasch lichtet. Neu nutze ich Obsidian.md. Folgende Kriterien sind mir bei der Wahl der Lösung wichtig (hier die zentralen):

  • Abhängigkeiten (von Anbietern, Verfügbarkeit von Cloud-Lösungen, Dateiformaten usw.) sollen minimiert werden.
  • Trennung von Content und Layout, offenes Format
  • Interoperationalität ist ein Schlüsselkriterium
  • Die Notizen sollen einfach verknüpfbar sein, unter Verwendung einer Backlink-Funktion.
  • Das „Wissensnetzwerk“ soll (mittels Graph) visualisiert werden können.
  • Skalierbarkeit der Lösung
  • Ausgewählte Notizen sollen ohne Aufwand im Netz veröffentlicht werden können, insbesondere in kollaborativen Arbeitsumgebungen.
  • Datenschutz soll optimal gewährleistet sein, in der Wissensarbeit bildet eine solche „Datenbank“ den Kernwert der Tätigkeit.

Bis vor Kurzem habe ich ausschliesslich mit Roam Research gearbeitet, der Hochschullösung. In meinem persönlichen Prozess der Wissensaneignung arbeite ich losgelöst davon nun aber mit Obsidian.md. Zwar ist diese Lösung erst in der Beta-Phase angekommen, doch die Version 1.0 wird in absehbarer Zeit veröffentlicht. Obsidian.md deckt bereits heute (Version 0.8.4) den Hauptteil meiner Anforderungen ab. Konkret:

  • Die Daten werden im Markdown-Format lokal gespeichert, einem transparenten, offenen, verbreiteten usw. Standard-Format. (Allerdings gibt es inzwischen viele Markdown-Dialekte, was erschwerend wirkt.) Content und Layout sind getrennt. Wer von verschiedenen Devices auf die Daten zugreifen will, kann Cloud-Speicher nutzen.
  • Die Verknüpfungen der Notizen werden über einen Knowledge Graph visualisiert. Wer schon einmal mit dieser Visualisierungsform gearbeitet hat, wird sie nicht mehr missen wollen. Im Gegensatz zu einem Mindmap, welches hierarchisch organisiert ist, bietet der Knowledge Graph eine multizentrische Darstellung.
  • Obsidian.md bietet bidirektionale Verknüpfung, Backlinks (listet die Links, welche auf die aktuelle Notiz verweisen), die Möglichkeit der Verschlagwortung (Tags), komplexe Suchoptionen, Multiscreen-Funktionen, einen Audiorecorder, ein benutzerdefiniertes CSS, einen Präsentationsmodus usw.
  • Da es sich um eine Beta-Version handelt, bestehen offene Pendenzen. Die Roadmap ist öffentlich. Doch bereits mit der aktuellen Version bietet sich Obsidian.md als praxistaugliche Lösung an, so meine Einschätzung.
  • Die Obsidian.md-Community ist aktiv und engagiert.
Obsidian, Beispiel eines Eintrags mit Local Graph (Map), die Verknüpfungen werden sichtbar
Obsidian, Beispiel mit Local Graph, Verknüpfung diese Artikels (Demo)

Obsidian.md ist für die persönliche Nutzung („personal and educational use“, FAQ) kostenlos, eine Registrierung ist nicht nötig. Bei kommerzieller Verwendung fallen moderate 50 Dollar/Jahr an. Obsidian.md ist noch auf Unterstützung angewiesen: Deshalb gibt es die Möglichkeit, ab 25 Dollar Support-Beitrag Insider usw. zu werden. Damit verbunden ist der frühe Zugriff auf Updates und einiges mehr.

Entwickelt wird Obsidian.md von Shida Li und Erica Xu. Beide haben ein Informatik-Studium in Kanada hinter sich und Erfahrungen unter anderem mit Dynalist.io, einem Konkurrenten von Workflowy, gesammelt.

Diese Einschätzungen sind Teil meines persönlichen Lernprozesses. Sie sollen anregen, selber auszuprobieren und den eigenen Prozess der Wissensaneignung aktiv zu gestalten.

Update: Heute ist die Version 0.8.4 freigegeben worden. Sie beinhaltet wichtige Neuerungen, beispielsweise den „lokalen Graph“.