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Schlagwort: Publikation

Kurztipp: „Ethnomethodologie reloaded“

Die beiden Soziologen Jörg R. Bergmann und Christian Meyer haben das Buch „Ethnomethodologie reloaded“ als Herausgeber aufgelegt. Die Beiträge widmen sich der Frage, wie das Programm der Ethnomethodologie angesichts einer veränderten Lebenswelt neu gedeutet werden kann. Sie schaffen Anschlussmöglichkeiten für aktuelle Fragen, die sich an eine Soziologie des mittleren Radius stellen.

Der Text ist Open Access und bei Transcript im September 2021 erschienen. Er ist frei zugänglich (PDF).

Als das Bloggen noch geholfen hat …

Dieser Artikel von Reto Eugster ist im Entwickler-Magazin WordPress im November 2017 erschienen. Er wird hier nochmals neu aufgelegt, und zwar im Hinblick auf die Veranstaltung Wissenschaftliches Schreiben (Oktober 2021).

Wissenschaftliche Artikel durchlaufen ein Verfahren der Qualitätssicherung, bevor sie in Fach­zeitschriften publiziert werden. Fachinterne Gutachterinnen und Gutachter bewerten die Quali­tät eines Textes. Peer-Review heisst das Verfahren, welches seit dem 17. Jahrhundert existiert und erstmals für das Journal Philosophical Transactions in London genutzt wurde.

Allerdings sind seit den frühen Jahren Fehlurteile bekannt. Beispielsweise wurde als Folge eines Peer-Re­view-Resultats im 18. Jahrhundert ein bahnbrechender Artikel über die Pocken-Krankheit nicht publiziert. Mit dem Aufkommen der Weblogs und einer wissenschaftsnahen Blogosphere war die Hoffnung verbunden, Artikel nun niederschwellig zugänglich zu machen. In einem trans­parenten Dis­kurs sollte die Science Community Texte diskutieren, bewerten und teilen können. Was ist aus diesen Hoffnungen geworden? In welcher Form kann das wissenschaftliche Bloggen eine Zukunft haben? Im Brennpunkt ist die deutschsprachige Blog-Szene.

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„Du stirbst nur dreimal“

Im Rahmen von Palliative Ostschweiz gestaltete ich am 3. Juni das Webinar „Du stirbst nur dreimal“. In einer Art Abstract habe ich nun Schwerpunkte meines Inputs zusammengefasst: siehe PDF-Abstract

Die gesamte Veranstaltung war inspirierend. Ich habe von den anderen Vortragenden Wichtiges gelernt. Vor allem wurde für mich an diesem Tag erlebbar, wie stark die Pflegefachkräfte durch die Corona-Krise belastet und überbelastet sind. Mein Respekt für das enorme Engagement.

Ich habe ein Paradies, aber mir fehlen die Engel*

(2014) Monika Wohler, langjährige Leiterin des Fachbereichs Soziale Arbeit an der FHS St. Gallen (und Vorgängerschulen), geht in Pension. Sie hat die Studiengänge der Sozialen Arbeit auch inhaltlich mitgeprägt, sich mit viel Engagement für deren permanente Weiterentwicklung eingesetzt. Zu Ihrer Verabschiedung haben Freundinnen und Freunde eine Buchpublikation erarbeitet.

Mit meinem Text „Ich habe ein Paradies, aber mir fehlen die Engel“ bin ich beteiligt. Worum geht es in meinem Artikel?

Monika Wohler und ich haben während rund zwölf Jahren mit viel Freude Beratungsmethodik gelehrt. Dabei haben wir mit einem fiktiven Fallbeispiel gearbeitet, mit dem „Fall Carlucci“. Viele ehemalige Studierende erinnern sich noch heute an diese Fallstudie.

In meinem Text nun kommt die Hauptfigur unseres fiktiven Falls zu Wort. Die Perspektive ist gedreht: Nun redet die Kunstfigur, der fiktive Herr Carlucci. Es ist seine Stunde. Wie hat er all die Jahre als Fallbeispiel erlebt? Wie fühlt es sich an, Fallbeispiel zu sein?

Viel Spass bei diesem Text, dessen Pointe ganz und gar nicht spassig gemeint ist.

(*) Zitat Anton Tschechow

Ich habe ein Paradies, aber mir fehlen die Engel, Buchartikel (PDF)

Blended Counseling

Digitale Beratung in der Sozialen Arbeit ist das Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift ZESO. Die Redaktorin Ingrid Hess hat mit mir ein Gespräch geführt, das nun publiziert ist.

Aus dem Gespräch:

„Die Vorstellungen von Dienstleistung und Beratung verändern sich durch die Branchen hin­durch. Dabei sind für die Soziale Arbeit drei Treiber bestimmend: Erstens werden Mikro-Sup­port-Systeme, kleine Hilfen, die z. B. via Social Media möglich werden, Formen der Sozialen Hilfe erweitern und verändern, teilweise ersetzen. Zweitens werden künstlich intelligente As­sistenzsysteme bei der Leistungserbringung ihren Platz bekommen. Und drittens sind diese Entwicklungen nur in der Koppelung an Mobile First möglich. Alles, was in den Alltag diffun­dieren soll, muss von der Hosentasche aus möglich sein.“ (Reto Eugster, Seite 24)

Soziale „Netzwerke sind attraktiv, weil sie die alltagsnahe Erschliessung von Ressourcen er­möglichen. Niederschwellig und beiläufig kommt es zum Ressourcentransfer. Soziale Netz­werke sind Mikro-Support-Systeme. Betroffene sind miteinander in Verbindung – und oft ist die Gewissheit dieser Verbundenheit ausreichend hilfreich.“ (Reto Eugster, Seite 25)

Langsam und laut lesen

365 Tage. Jeden Tag ein Blogbeitrag. Mit dem Mut zum „Medienbruch“ hat Stefan Ribler daraus ein Buch komponiert. Mein Buchbeitrag: „Langsam und laut lesen“ (PDF).

„Was wird von uns übrig bleiben, wenn wir eines (vielleicht nicht mehr fernen) Tages vergangen sein werden? Ich weiss es. Es wird ein einziger Satz sein, den jemand – ein guter Freund, ein guter Feind oder (wenn wir Pech haben) ein unbekanntes Niemandsgesicht – für uns ausgesprochen haben wird. Irgendwann, irgendwo. Scheinbar aus dem Nichts zieht ein Satz auf, so unerwartet wie überraschend, ein Satz, der uns kurz mit sich fortträgt (oder auch nicht). Einen Wimpernschlag lang unterscheidet sich ein einziger Satz vom Unterstrom des alltäglichen Sprachsingsangs, um sich schliesslich wie von selbst aufzulösen. Was von uns übrig bleiben wird, ist ein Ereignis, ist dieses kurze Satzereignis.“

Zum Buchartikel

Totengebete und Facebook-Likes?

Sterben und Tod: Im Zuge veränderter Mediennutzung wandeln sich auch Formen des Trauerns. Prof. Dr. Reto Eugster im Gespräch mit Claudia Deuber über die Medialisierung des Trauerns.

Was ist typisch für die Art, wie heute mit Sterben und Tod umgegangen wird?
Der Umgang mit Sterben und Tod unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel. Während die Vorstellungen von Sterben und Tod vom frühen Mittelalter bis hinein ins 18. Jahr­hundert weitgehend religiös „gezähmt“ waren, erleben wir heute ihre Psychisierung und Ästhetisie­rung. Der Tod ist nichts mehr, was uns „schicksalhaft“ ereilt, dem wir uns ergeben, sondern ist eine Zu­mutung, die der medialen Skandalisierung bedarf.

Was ist mit Psychisierung und Ästhetisierung gemeint?
In einer stark indivi­dua­lisierten Gesellschaft sind Sterben und Tod Angelegenheiten des Einzelnen. Nun droht der Umgang mit der Angst vor dem Tod zum psychischen Problem zu werden, das im Zweifel psychopharmakologisch behandelt wird. Anderseits ist der Tod in seinen medialen In­szenie­­­rungen allgegenwärtig. Ob im TV-Krimi, in der Tagesschau, bei stark frequen­tier­ten YouTube-Sequenzen oder in historischen Dokumentationen usw.: Es geht um die Klischierung und Mythisierung von Sterben und Tod. Wir sprechen zusammenfassend von der Ästhetisierung des Todes.

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Digitaler Assistent als Freund im Alter?

Die Berner Zeitung widmet sich heute der Frage, inwieweit „digitale Assistenten“ älteren Menschen die Alltagsbewältigung zu vereinfachen vermögen. An diesem Artikel konnte ich mitwirken. Meine umfassendere Einschätzung in einer notizartigen Zusammenfassung:

Das Smartphone ist daran, zum allgegenwärtigen, mehrdimensionalen Alltagsassistenten zu werden. Unterstützung gibt es beispielsweise via Einkanal-EKG ebenso wie bei der Justierung von Haustechnik, der Navigation durch die Stadt oder beim Einkauf. Meines Erachtens werden in einer nächsten Phase in drei Bereichen Nutzungspotenziale entstehen, die für ältere Menschen von spezieller Bedeutung sein können:

a) „Selbstvermessung“, gesundheitsrelevantes Monitoring (z.B. kardiologische Anwendungen, die heute schon angeboten werden).

b) Notfallsysteme, die intelligenter werden und in schwierigen Situationen bereits ein „punktgenaue“ Triagierung an die richtige Stelle vornehmen.

c) Soziale Kontakte werden im Zuge der so genannten „Messengerisierung“ einfacher („intelligenter“) lebbar, gerade bei älteren Menschen, die in ihrer physischen Mobilität (teil-)eingeschränkt sind. Stichwort: Messenger mit intelligenten Assistenzfunktionen, Navigationssystemen usw.

Inwieweit solche Lösungen die nötige Akzeptanz finden, ist zentral von vier Faktoren abhängig (hier als Zuspitzung und Zusammenfassung):

  • vom sozialen Milieu: Die Bereitschaft zur Aneignung von Kulturpraktiken ist milieugeprägt;
  • vom Vorhandensein einer Mittlerperson (Familienmitglied, Kinder, Freund, Freundin usw.);
  • von der Nützlichkeitserwartung (bzw. von der Plausibilisierung der Nützlichkeit im sozialen Nahbereich);
  • von der Einfachheit der Nutzung.

Nehmen wir die generelle Akzeptanz des Internets bei den älteren Generationen als Indikator, so stellen wir fest, dass wir es in den letzten Jahren mit einer deutlichen Akzeptanzzunahme zu tun haben. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Zunahme bei der Smartphone-Nutzung. Knapp drei von zehn Seniorinnen/Senioren ab 65 besitzen und nutzen ein internetfähiges Smartphone (Deutschland, 2016).

Zum Artikel in der Berner Zeitung: Mittlerweile bin ich nicht mehr Leiter des Kompetenzentrums Generationen der FHS St.Gallen, sondern Leiter des interdisziplinären Weiterbildungszentrums.

Zum Artikel in der Berner Zeitung

Die Erde ist flach. Jedenfalls für Spaziergänger

Seit Februar 2013 gibt es das neue Weiterbildungszentrum an der FHS St.Gallen: mit einem hohen Anspruch an Bildungsinnovation. Lisa Brunner im Gespräch mit dem neuen Leiter, Reto Eugster, über Vorhaben und Ausrichtung.

Was ändert sich mit der Neugliederung der Weiterbildung an der FHS St. Gallen?

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Verhindern? Nein

Von Reto Eugster (*)

Zu „Massen-Eremiten“ würde uns das Fernsehen machen, warnte Günther Anders in den 50er Jahren. Das Fernsehen erzeuge die Form des Teilhabens ohne Teilnahme. Als passive Emp­fänger sind wir vor dem Fern­seher «dabei», am Fussballspiel oder am Gottesdienst, und blei­ben Abwesende. Die Kritik am Einbahn­prinzip des Fernsehens ist alt. Heute, in der Zeit des mobilen Internets, erleben wir den „Zwang“ zur Inter­aktion. Ein Smartphone ist auf Austausch hin angelegt.

Mit den Sozialen Medien verabschieden wir uns von der Empfängerrolle. Nun gestalten wir ein Ereignis wie den Amoklauf von München mit. Wir erzeugen Ängste, Gerüchte und Meinungen. Täter planen ihre Tat unter Berücksichtigung unserer aktiven Mitarbeit.

Bevor die Polizei am Tatort in München ermitteln konnte, kursierte in den Sozialen Medien ein Tatortfoto. Die Aufnah­me wirkte dra­mati­sierend – und erwies sich als Fake. Die Meldung «Schüsse im Zentrum Mün­chens» löste Panik aus. Auch sie war falsch, brachte aber die Grossstadt in Wallung. Ein Polizei­sprecher sprach vom «Problem der Angst». Er fragte sich, wie den aufgeschäumten Ängsten der nicht unmittelbar Betrof­fenen beizukommen ist.

Was tun? Eine einfache und schwierige Frage zugleich.

Einfach: Bei der Aneignung Sozialer Medien müssen wir lernen, Information mediengerecht zu deuten. Soziale Medien verlangen eine soziale Lesart, verlangen «Vertrauensfilter». Es geht um den Prozess der „sozialen Eichung“. Um die Vertrauenswürdigkeit von Freundesfreunden – und letztlich ihrer Beiträge – zu «testen», sind andere Kriterien nötig als bei einem journalistischen Text. Medien­kompetenz ist gefragt.

Schwierig ist die Beantwortung der Frage, weil wir uns inmitten einer Um­wälzung befin­den. Wir erleben, wie Messaging – mit Whatsapp als Marktführer – zur zentralen Anwendung wird, welche die «offenen» Plattformen relativiert. Die vier bedeutendsten Messenger haben mehr aktive Nutzer als die vier wichtig­sten Sozialen Platt­formen (Facebook, Twitter usw.). Wir können Ash Reads Gedanken aufnehmen (12.4.16, blog.bufferapp.com) und von einer Messengerisierung sprechen. Konkret bedeutet dies: Wer z.B. Twitter nutzt, stellt eine Form von „Öffentlichkeit“ her. Dies bedeutet, sich zu exponieren. Für viele ist dies zu riskant. Sie entziehen sich den «offenen» Plattformen. Im Trend liegen Whatsapp-Gruppen. Ob Fussballfans, politische Zirkel, Nachbar­schaften, Schul­freunde, Studienzirkel, Clubs: in geschlos­senen Gruppen entfaltet sich der Mut zur Profilierung. Ein Trend mit Fol­gen:

  • Debatten verlagern sich in kleingruppenbezogene soziale Nischen.
  • Diskutiert wird hinter «verschlossener Tür», abgedun­kelte Zonen des Sozialen entstehen, ein eigentliches Darknet.
  • „Offene“ Plattformen drohen zu Verlautbarungsinstrumenten zu verkommen, die mehr und mehr Werbe­smog produzieren.

Appell, Warnung, Verhinderung: Weder das kulturpessimistische «Lösungsdreieck» noch die «Sicher­­heitsesoterik» aufgeschreckter Politakteure bringen uns weiter. Das Risiko der Risikovermeidung ist zu gross.

Sinnvoller ist die Frage, wie das nicht ausgeschöpfte Potenzial Sozialer Medien bei der Überwindung von aktuellen Problemen genutzt werden kann: für politisches Engagement, das neue Formen der Bürger­beteiligung ermöglicht, für die Schaf­fung von Rahmenbedingungen, die soziotechni­sche Innovation be­günstigen, für die gene­ra­tio­nen­­übergreifende Förderung von Medien­kompe­tenz.

Die gute und die schlechte Nachricht lassen sich in einem Satz ausdrücken, den Luhmann ähnlich formu­lierte: «Die Welt» wird besser und schlechter gleichzeitig.

In leicht gekürzter Form am 1.9.2016 im Pfarreiforum, St. Gallen, erschienen (Redaktion Stephan Sigg).

Die Erde ist flach, jedenfalls für Spaziergänger

Ein Gespräch der Blog-Redaktion mit dem Leiter des Weiterbildungszentrums FHS St.Gallen, Prof. Dr. Reto Eugster*, eröffnet unsere Serie Fokus. Dozierende unseres Weiterbildungszentrums kommen zu Wort. Sie nehmen als Expertinnen und Experten Stellung zu Fragen ihres Lern-Lehr-Verständnisses. (Erschienen im Bildungshorizont, 2015)

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Seit Februar 2013 gibt es das neue Weiterbildungszentrum FHS St.Gallen. Was sind wichtige Neuerungen?

Die bisherigen vier Weiterbildungsabteilungen, die strukturell in den vier Fachbereichen Wirtschaft, Technik, Gesundheit und Soziale Arbeit verankert waren, sind Anfang 2013 in das neue Weiterbildungszentrum übergegangen. Unsere Angebote beziehen sich neu auf neun Themenschwerpunkte, beispielsweise Gesundheit, Business Administration, Public Services oder Neue Medien. Die Neustrukturierung macht klar: Uns ist eine fachbereichsübergreifende und interdisziplinäre Perspektive wichtig.

Eine solche Neustrukturierung verändert Lehr-Lern-Arrangements.

Der Fokus verschiebt sich vom Was des Lernens auf das Wie des Lernens. Wir vollziehen eine Bewegung vom Lehren zum Lernen. Damit verändern sich Erwartungen an Studierende und Dozierende. Studierende stehen am Regie-Pult ihres Lernprozesses. Dozierende sind auch Vermittler, Lotsen, Coaches, Berater usw.

Dies bedeutet, es steht Veränderung an.

Wir haben nicht erst im Februar 2013 begonnen, Lernarrangements weiter zu entwickeln. Bereits heute sind wir auf dem aktuellen Stand der Weiterbildungsentwicklung. Vieles ist geleistet. Aber es ist nicht falsch zu sagen: Wir wollen mehr erreichen.

Es stehen Investitionen in die Bildungsinnovation an?

Wir nutzen die Expertise unserer Hochschule, konkret beispielsweise des Zentrums für Hochschulbildung, um Bildungsinnovation zu forcieren. In den nächsten Jahren werden wir Zeit und Geld gezielt in Bildungsinnovation investieren. Ausgangspunkt dabei ist die Frage: Welche Lernarrangements ermöglichen optimales transferorientiertes Lernen, und wie erreichen wir gleichzeitig eine Wissenschaftsnähe, die professionelles Handeln begründet und legitimiert?

Weg vom Frontalunterricht…

… Eine Formulierung, die ideologisch schmeckt. Die Frage ist eher, welche Ziele mit welchem Lernarrangement erreichbar sind. Schulen müssen allerdings von der Vorstellung Abschied nehmen, dass nur dort gelernt werde, wo gelehrt wird. Eine Formulierung von Rolf Arnold.

Lernen an Hochschulen, da denkt man immer noch an Hörsäle, Vorlesungen …

… An eine Art von Studierenden-Beschallung? Nein, das ist weder unsere Gegenwart noch unser Ziel. Die Studierenden sind als Lernakteure angesprochen. Sie sind weniger Teil eines Lehrgangs als vielmehr Initiatorin oder Initiator ihres Lerngangs.

Dies bedeutet, dass von Studierenden der Weiterbildung mehr erwartet wird als zuzuhören, zu notieren und zu reproduzieren.

Lernen ist eine Herausforderung, eine Befriedigung, eine Chance –, aber stets auch eine Zumutung. Bewährte Denkmuster und Handlungskonventionen, „funktionierende Vorurteile“, wie Soziologen sagen, werden hinterfragt. Lernen bedeutet, von einer Haltung vermeintlicher Gewissheit zu einer Haltung der Überraschbarkeit zu kommen. Studierende müssen bereit sein, diese Lernzumutung anzu­nehmen. Lernen bedeutet die Entwicklung einer Lernhaltung.

Das erfordert Studierende, die mitmachen, die bereit sind, das Prozesshafte des Lernens zu akzeptieren.

Für den Spaziergänger reicht die Vorstellung der Erde als Scheibe. Für den Flugreisenden ist es von Vorteil, für den Astronauten ein Muss, die Erde als Erdball zu begreifen. Mit den Zielen – Spazieren, Fliegen, Mondbegehung – wechseln die Lernzumutungen. Nach wie vor existiert in den USA die Bewegung der Flacherdler. Sie nennt sich Flat Earth Society und setzt sich aus Zeitgenossen zusammen, die auf dem Konzept einer flachen Erde bestehen. Für sie ist eine Erde ohne Rückseite unvorstellbar.

Die Verweigerung, sich neuen Erkenntnissen zu öffnen…

… Für die akademische Welt durchaus eine verwegene Verweigerung. Das politische Ziel der Flat Earth Society besteht meines Wissens nach wie vor darin, die US-Regierung dazu zu bewegen, die Erde zur Scheibe zu erklären.

Ein Ziel, das noch nicht erreicht ist.

Die Flacherdler sind nicht bereit, sich der Zumutung von Satellitenbildern zu stellen, da diese Bilder etwas zeigen, was sich der Unmittelbarkeit ihrer Erfahrung entzieht. Meine Einschätzung ist, dass wir in Lernprozessen immer wieder zu Flacherdlern werden. Jenseits flacher Gewissheiten sind Erkenntnisse oft mühsam nur zu akzeptieren. Mit dem Wissen vermehrt sich das Nichtwissen. Am Ende eines Lehrgangs weiss ich mehr als zu Beginn, aber es öffnet sich unversehens ein Horizont neuer Fragen. Und das ist nicht die schlechte, sondern die gute Nachricht.

Hier kommt Wissenschaft ins Spiel. Wissenschaft ermöglicht, über das Faktische und über das Offensichtliche hinaus zu gelangen. Aber schadet zu viel Wissenschaft nicht der Praxistauglichkeit?

Anwendungsorientierung und Wissenschaftsnähe als Gegensatz zu denken, greift zu kurz. Es macht einen Unterschied, ob professionelles Handeln auf Gerüchten, Annahmen, Vorurteilen usw. beruht oder ob es wissenschaftliche Gründe dafür gibt. Wer ein Haus baut, tut gut daran, sich bei Fragen der Statik nicht bloss auf Gerüchte oder sein Gefühl zu verlassen, sondern geologische Theorien der Erdschichtung ernst zu nehmen.

Wissenschaft erzeugt eine Art von Wissensüberhang, der bei konkreten Anwendungen nicht gebraucht wird …

Das unterscheidet wissenschaftliches Wissen von Rezeptwissen. Wissenschaft erzeugt, gemessen an der einzelnen Anwendung, diesen Wissensüberschuss, weil sie an einer Welt-in-Bewegung ausgerichtet ist. Sie rechnet damit, dass sich Anforderungen an Handelnde laufend ändern. Deshalb geht es in der Wissenschaft weniger um Wissensbestände als um Wissenschaftsdiskurse. Durch unsere Wissenschaftsnähe ermöglichen wir Weiterbildungen, die Handelnde auf eine sich wandelnde Welt vorbereitet.

Handelnde aber müssen wissenschaftliches Wissen oft ignorieren, wenn sie entscheidungsfähig bleiben wollen.

Das Entscheiden ist immer, wie Marcel Loher sagt, eine Verzichtsplanung. Die Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit, auszublenden, gehören auf eigentümliche Weise zusammen. Aber es macht den entscheidenden Unterschied, ob wissenschaftliches Wissen anwendungsbezogen als irrelevant bewertet oder ob es einfach ignoriert wird. Denken Sie an die geologische Expertise beim Hausbau.

In einer sich wandelnden Welt wird vernetztes Denken wichtig. Interdisziplinarität, ein Schlüsselbegriff…

… Als Etikette beliebt, bei der Implementierung häufig unterschätzt. Oft ist damit schlicht die Erweiterung einer beruflichen Perspektive gemeint. Wie ist es möglich, die eigenen Routinen vor dem Hintergrund „fremden“ Wissens zu reflektieren und auf neue Gedanken zu kommen. Gerade der enorme Innovationsdruck, dem ganze Branchen ausgesetzt sind, legt die Hoffnung auf den „anderen Blick“ nahe. Edison, Zuse, Berners-Lee: Sie mussten Denkkonventionen sprengen, um die Glühbirne, programmgesteuerte Rechner oder das World Wide Web zu „erschaffen“.

Was ist bei der Realisierung von Interdisziplinarität wichtig?

Als Weiterbildungszentrum ist es uns wichtig, spezifische Anforderungen von Berufen, Professionen und Branchen zu verstehen. Deshalb arbeiten wir intensiv mit Praxispartnern zusammen. Ansprüche nach „Interdisziplinarität“ können nicht meinen, diese Spezifika zu vernachlässigen. „Interdisziplinarität“ kommt dort ins Spiel, wo Probleme nicht nur kompliziert sind, sondern komplex werden. Um Probleme angehen zu können, müssen Akteure disziplinäre Bezüge nutzen und gleichzeitig über sie hinaus kommen können. Interdisziplinarität setzt disziplinäre Selbstvergewisserung voraus.

Man muss die Notwendigkeit von Interdisziplinarität erkennen können, und zwar im konkreten Anwendungsfall.

… Bei einer Betriebsbesichtigung erklärte mir der Verantwortliche, die Produktionsprozesse seien inzwischen durchgängig optimiert. Doch wenn Mitarbeiter in einer Produktionseinheit im Konflikt lebten und sich dieser in den Feinverästelungen der Kommunikation ablagere, leide die gesamte Produktion darunter. Die Optimierung der Produktionsprozesse ist ein Geschäft, bei dem Prozessexperten unverzichtbar sind. Darüber hinaus zeigt sich, dass hier eine hochspezifische soziologische Expertise relevant ist. Während die einen Konflikte als Unfälle sehen, sind sie für die anderen Normalfälle der Kommunikation. Der Wechsel der Perspektive eröffnet neue Handlungsoptionen.

Mein Eindruck ist, dass Experten oft zu wenig über die Optionen anderer Experten wissen.

Das Problem der Interdisziplinarität ist, dass man nicht weiss, was man nicht weiss. Und so weiss ich oft nicht, dass es jemanden gäbe, der wüsste, wie mein Problem zu lösen wäre. Oder der mindestens glaubt oder glauben machen will, es zu wissen…

8x Schulsozialarbeit

Acht Berichte und Refelexionen zur Schulsozialarbeit: Seit bald zehn Jahren gibt es an der FHS St. Gallen nun den Lehrgang Schulsozialarbeit. Der Lehrgang ist unter Einbezug schulsozialarbeiterischer Praxis entstanden und so verwundert es nicht, dass nun eine Reflexion in Buchform aufgelegt wird, die ebenfalls Praxiserfahrungen fokussiert. Praktikerinnen und Praktiker kommen ebenso zu Wort wie Dozierende. Die Leiterin des Lehrgangs Schulsozialarbeit, Rosmarie Arnold, wirkte beim Buchprojekt mit. Für die Herausgabe sind zudem verantwortlich Johann Brandstetter, Christian Reutlinger, Martin Müller und Reto Eugster.

Vielfältig, vertieft, zuweilen auch provokant wird die Situation der Schulsozialarbeit bilanziert. Geografischer Schwerpunkt ist die Ostschweiz, doch Ausgangslagen und Erkenntnisse lassen sich mindestens auf die gesamte Schweiz übertragen. Immer wieder geht es darum, in welchem Verhältnis sich die Schulsozialarbeit zur Organisation Schule sieht. Oder wäre es sinnvoller, sozial- und schulpädagogische Perspektiven aufeinander zu beziehen? Kann von einem Trend zur Sozialpädagogisierung der Schule gesprochen werden? Wenn die Schulsozialarbeit mehr als Hilfsdienst für die Schule sein wollte, mehr als Krisendienst oder Vollzugsorgan: Was könnte sie werden? Das Buch bietet Antworten, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Leserin und Leser werden ebenso mit (hoffentlich) inspirierenden offenen Fragen konfrontiert.

Erschienen ist das Buch bei Frank & Timme, dem Verlag für wissenschaftliche Literatur.