Positionen

In dieser Woche unterrichte ich wieder im Lehrgang Medienpädagogik (CAS, Fachhochschule). Seit rund zehn Jahren bin ich im Dozierendenteam dabei. Im Rahmen meines Seminars führe ich in drei grundlegende medienpädagogische Positionen ein, um aktuelle Debatten einordnen zu können:

  • Position 1: Schutzräume errichten
  • Position 2: Resilienz stärken und mit Eigenentwicklung rechnen
  • Position 3: Medienentwicklungen und -ereignisse als pädagogische Anlässe nutzen: dialogisch-mediensensitive Pädagogik.

In politischen Debatten wird oft Position 1 vertreten. Es soll gefiltert werden, wo immer möglich. Diese Position ist deshalb politisch ergiebig, weil sie 1) alltagslogisch umstandslos einzuleuchten scheint und 2) stets „die anderen“ adressiert: Plattformen, Messenger-Anbieter usw. Zwei Kriterien, welche den politischen Diskurs als solchen ausweisen. Es soll simpel sein und die anderen mit Handlungserwartungen adressieren.

Doch das Konzept des „Schutzraums“ ist allein deshalb oft problematisch, weil es kaum zu verwirklichen ist und den Anforderungen, die sich an Pädagogik stellen, nicht gerecht werden kann. Dabei stehen nicht primär technische Probleme im Vordergrund, obwohl sie nicht zu unterschätzen sind, sondern soziale. In der Schule beispielsweise wird die Unterschiedlichkeit der elterlichen Zugangsregelungen „zum Problem“, sobald versucht wird, Position 1 zu realisieren. Oder wie meine Kollegin sagt, die als Lehrerin tätig ist: Einer/eine in der Klasse hat immer den „Schlüssel“ zur Türe in den „Abgrund“.

Dies bedeutet: Es bräuchte eine mediensensitive Pädagogik, die mit Medienmilieus rechnet und mit Kompetenzsymmetrien zwischen Jugendlichen und pädagogischen Akteuren. Vom politischen Personal kann selten Unterstützung erwartet werden, dies zeigen konkrete Erfahrungen der letzten Jahre. Das Anliegen muss meines Erachtens sein, Kompetenzen hin zu einer mediensensitiven Pädagogik zu entwickeln (nicht bloss zu einer „Medienpädagogik“) , die zu mehr fähig ist als zu: „Ich filtere, also bin ich“.

Als das Bloggen noch geholfen hat …

Dieser Artikel von Reto Eugster ist im Entwickler-Magazin WordPress im November 2017 erschienen. Er wird hier nochmals neu aufgelegt, und zwar im Hinblick auf die Veranstaltung Wissenschaftliches Schreiben (Oktober 2021).

Wissenschaftliche Artikel durchlaufen ein Verfahren der Qualitätssicherung, bevor sie in Fach­zeitschriften publiziert werden. Fachinterne Gutachterinnen und Gutachter bewerten die Quali­tät eines Textes. Peer-Review heisst das Verfahren, welches seit dem 17. Jahrhundert existiert und erstmals für das Journal Philosophical Transactions in London genutzt wurde.

Allerdings sind seit den frühen Jahren Fehlurteile bekannt. Beispielsweise wurde als Folge eines Peer-Re­view-Resultats im 18. Jahrhundert ein bahnbrechender Artikel über die Pocken-Krankheit nicht publiziert. Mit dem Aufkommen der Weblogs und einer wissenschaftsnahen Blogosphere war die Hoffnung verbunden, Artikel nun niederschwellig zugänglich zu machen. In einem trans­parenten Dis­kurs sollte die Science Community Texte diskutieren, bewerten und teilen können. Was ist aus diesen Hoffnungen geworden? In welcher Form kann das wissenschaftliche Bloggen eine Zukunft haben? Im Brennpunkt ist die deutschsprachige Blog-Szene.

Weiterlesen „Als das Bloggen noch geholfen hat …“

Kurztipp: „Ethnomethodologie reloaded“

Die beiden Soziologen Jörg R. Bergmann und Christian Meyer haben das Buch „Ethnomethodologie reloaded“ als Herausgeber aufgelegt. Die Beiträge widmen sich der Frage, wie das Programm der Ethnomethodologie angesichts einer veränderten Lebenswelt neu gedeutet werden kann. Sie schaffen Anschlussmöglichkeiten für aktuelle Fragen, die sich an eine Soziologie des mittleren Radius stellen.

Der Text ist Open Access und bei Transcript im September 2021 erschienen. Er ist frei zugänglich (PDF).

„Du stirbst nur dreimal“

Im Rahmen von Palliative Ostschweiz gestaltete ich am 3. Juni das Webinar „Du stirbst nur dreimal“. In einer Art Abstract habe ich nun Schwerpunkte meines Inputs zusammengefasst: siehe PDF-Abstract

Die gesamte Veranstaltung war inspirierend. Ich habe von den anderen Vortragenden Wichtiges gelernt. Vor allem wurde für mich an diesem Tag erlebbar, wie stark die Pflegefachkräfte durch die Corona-Krise belastet und überbelastet sind. Mein Respekt für das enorme Engagement.

Ich habe ein Paradies, aber mir fehlen die Engel*

(2014) Monika Wohler, langjährige Leiterin des Fachbereichs Soziale Arbeit an der FHS St. Gallen (und Vorgängerschulen), geht in Pension. Sie hat die Studiengänge der Sozialen Arbeit auch inhaltlich mitgeprägt, sich mit viel Engagement für deren permanente Weiterentwicklung eingesetzt. Zu Ihrer Verabschiedung haben Freundinnen und Freunde eine Buchpublikation erarbeitet.

Mit meinem Text „Ich habe ein Paradies, aber mir fehlen die Engel“ bin ich beteiligt. Worum geht es in meinem Artikel?

Monika Wohler und ich haben während rund zwölf Jahren mit viel Freude Beratungsmethodik gelehrt. Dabei haben wir mit einem fiktiven Fallbeispiel gearbeitet, mit dem „Fall Carlucci“. Viele ehemalige Studierende erinnern sich noch heute an diese Fallstudie.

In meinem Text nun kommt die Hauptfigur unseres fiktiven Falls zu Wort. Die Perspektive ist gedreht: Nun redet die Kunstfigur, der fiktive Herr Carlucci. Es ist seine Stunde. Wie hat er all die Jahre als Fallbeispiel erlebt? Wie fühlt es sich an, Fallbeispiel zu sein?

Viel Spass bei diesem Text, dessen Pointe ganz und gar nicht spassig gemeint ist.

(*) Zitat Anton Tschechow

Ich habe ein Paradies, aber mir fehlen die Engel, Buchartikel (PDF)

Blended Counseling

Digitale Beratung in der Sozialen Arbeit ist das Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift ZESO. Die Redaktorin Ingrid Hess hat mit mir ein Gespräch geführt, das nun publiziert ist.

Aus dem Gespräch:

„Die Vorstellungen von Dienstleistung und Beratung verändern sich durch die Branchen hin­durch. Dabei sind für die Soziale Arbeit drei Treiber bestimmend: Erstens werden Mikro-Sup­port-Systeme, kleine Hilfen, die z. B. via Social Media möglich werden, Formen der Sozialen Hilfe erweitern und verändern, teilweise ersetzen. Zweitens werden künstlich intelligente As­sistenzsysteme bei der Leistungserbringung ihren Platz bekommen. Und drittens sind diese Entwicklungen nur in der Koppelung an Mobile First möglich. Alles, was in den Alltag diffun­dieren soll, muss von der Hosentasche aus möglich sein.“ (Reto Eugster, Seite 24)

Soziale „Netzwerke sind attraktiv, weil sie die alltagsnahe Erschliessung von Ressourcen er­möglichen. Niederschwellig und beiläufig kommt es zum Ressourcentransfer. Soziale Netz­werke sind Mikro-Support-Systeme. Betroffene sind miteinander in Verbindung – und oft ist die Gewissheit dieser Verbundenheit ausreichend hilfreich.“ (Reto Eugster, Seite 25)

Langsam und laut lesen

365 Tage. Jeden Tag ein Blogbeitrag. Mit dem Mut zum „Medienbruch“ hat Stefan Ribler daraus ein Buch komponiert. Mein Buchbeitrag: „Langsam und laut lesen“ (PDF).

„Was wird von uns übrig bleiben, wenn wir eines (vielleicht nicht mehr fernen) Tages vergangen sein werden? Ich weiss es. Es wird ein einziger Satz sein, den jemand – ein guter Freund, ein guter Feind oder (wenn wir Pech haben) ein unbekanntes Niemandsgesicht – für uns ausgesprochen haben wird. Irgendwann, irgendwo. Scheinbar aus dem Nichts zieht ein Satz auf, so unerwartet wie überraschend, ein Satz, der uns kurz mit sich fortträgt (oder auch nicht). Einen Wimpernschlag lang unterscheidet sich ein einziger Satz vom Unterstrom des alltäglichen Sprachsingsangs, um sich schliesslich wie von selbst aufzulösen. Was von uns übrig bleiben wird, ist ein Ereignis, ist dieses kurze Satzereignis.“

Zum Buchartikel

Totengebete und Facebook-Likes?

Sterben und Tod: Im Zuge veränderter Mediennutzung wandeln sich auch Formen des Trauerns. Prof. Dr. Reto Eugster im Gespräch mit Claudia Deuber über die Medialisierung des Trauerns.

Was ist typisch für die Art, wie heute mit Sterben und Tod umgegangen wird?
Der Umgang mit Sterben und Tod unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel. Während die Vorstellungen von Sterben und Tod vom frühen Mittelalter bis hinein ins 18. Jahr­hundert weitgehend religiös „gezähmt“ waren, erleben wir heute ihre Psychisierung und Ästhetisie­rung. Der Tod ist nichts mehr, was uns „schicksalhaft“ ereilt, dem wir uns ergeben, sondern ist eine Zu­mutung, die der medialen Skandalisierung bedarf.

Was ist mit Psychisierung und Ästhetisierung gemeint?
In einer stark indivi­dua­lisierten Gesellschaft sind Sterben und Tod Angelegenheiten des Einzelnen. Nun droht der Umgang mit der Angst vor dem Tod zum psychischen Problem zu werden, das im Zweifel psychopharmakologisch behandelt wird. Anderseits ist der Tod in seinen medialen In­szenie­­­rungen allgegenwärtig. Ob im TV-Krimi, in der Tagesschau, bei stark frequen­tier­ten YouTube-Sequenzen oder in historischen Dokumentationen usw.: Es geht um die Klischierung und Mythisierung von Sterben und Tod. Wir sprechen zusammenfassend von der Ästhetisierung des Todes.

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Digitaler Assistent als Freund im Alter?

Die Berner Zeitung widmet sich heute der Frage, inwieweit „digitale Assistenten“ älteren Menschen die Alltagsbewältigung zu vereinfachen vermögen. An diesem Artikel konnte ich mitwirken. Meine umfassendere Einschätzung in einer notizartigen Zusammenfassung:

Das Smartphone ist daran, zum allgegenwärtigen, mehrdimensionalen Alltagsassistenten zu werden. Unterstützung gibt es beispielsweise via Einkanal-EKG ebenso wie bei der Justierung von Haustechnik, der Navigation durch die Stadt oder beim Einkauf. Meines Erachtens werden in einer nächsten Phase in drei Bereichen Nutzungspotenziale entstehen, die für ältere Menschen von spezieller Bedeutung sein können:

a) „Selbstvermessung“, gesundheitsrelevantes Monitoring (z.B. kardiologische Anwendungen, die heute schon angeboten werden).

b) Notfallsysteme, die intelligenter werden und in schwierigen Situationen bereits ein „punktgenaue“ Triagierung an die richtige Stelle vornehmen.

c) Soziale Kontakte werden im Zuge der so genannten „Messengerisierung“ einfacher („intelligenter“) lebbar, gerade bei älteren Menschen, die in ihrer physischen Mobilität (teil-)eingeschränkt sind. Stichwort: Messenger mit intelligenten Assistenzfunktionen, Navigationssystemen usw.

Inwieweit solche Lösungen die nötige Akzeptanz finden, ist zentral von vier Faktoren abhängig (hier als Zuspitzung und Zusammenfassung):

  • vom sozialen Milieu: Die Bereitschaft zur Aneignung von Kulturpraktiken ist milieugeprägt;
  • vom Vorhandensein einer Mittlerperson (Familienmitglied, Kinder, Freund, Freundin usw.);
  • von der Nützlichkeitserwartung (bzw. von der Plausibilisierung der Nützlichkeit im sozialen Nahbereich);
  • von der Einfachheit der Nutzung.

Nehmen wir die generelle Akzeptanz des Internets bei den älteren Generationen als Indikator, so stellen wir fest, dass wir es in den letzten Jahren mit einer deutlichen Akzeptanzzunahme zu tun haben. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Zunahme bei der Smartphone-Nutzung. Knapp drei von zehn Seniorinnen/Senioren ab 65 besitzen und nutzen ein internetfähiges Smartphone (Deutschland, 2016).

Zum Artikel in der Berner Zeitung: Mittlerweile bin ich nicht mehr Leiter des Kompetenzentrums Generationen der FHS St.Gallen, sondern Leiter des interdisziplinären Weiterbildungszentrums.

Zum Artikel in der Berner Zeitung

Verhindern? Nein

Von Reto Eugster (*)

Zu „Massen-Eremiten“ würde uns das Fernsehen machen, warnte Günther Anders in den 50er Jahren. Das Fernsehen erzeuge die Form des Teilhabens ohne Teilnahme. Als passive Emp­fänger sind wir vor dem Fern­seher «dabei», am Fussballspiel oder am Gottesdienst, und blei­ben Abwesende. Die Kritik am Einbahn­prinzip des Fernsehens ist alt. Heute, in der Zeit des mobilen Internets, erleben wir den „Zwang“ zur Inter­aktion. Ein Smartphone ist auf Austausch hin angelegt.

Mit den Sozialen Medien verabschieden wir uns von der Empfängerrolle. Nun gestalten wir ein Ereignis wie den Amoklauf von München mit. Wir erzeugen Ängste, Gerüchte und Meinungen. Täter planen ihre Tat unter Berücksichtigung unserer aktiven Mitarbeit.

Bevor die Polizei am Tatort in München ermitteln konnte, kursierte in den Sozialen Medien ein Tatortfoto. Die Aufnah­me wirkte dra­mati­sierend – und erwies sich als Fake. Die Meldung «Schüsse im Zentrum Mün­chens» löste Panik aus. Auch sie war falsch, brachte aber die Grossstadt in Wallung. Ein Polizei­sprecher sprach vom «Problem der Angst». Er fragte sich, wie den aufgeschäumten Ängsten der nicht unmittelbar Betrof­fenen beizukommen ist.

Was tun? Eine einfache und schwierige Frage zugleich.

Einfach: Bei der Aneignung Sozialer Medien müssen wir lernen, Information mediengerecht zu deuten. Soziale Medien verlangen eine soziale Lesart, verlangen «Vertrauensfilter». Es geht um den Prozess der „sozialen Eichung“. Um die Vertrauenswürdigkeit von Freundesfreunden – und letztlich ihrer Beiträge – zu «testen», sind andere Kriterien nötig als bei einem journalistischen Text. Medien­kompetenz ist gefragt.

Schwierig ist die Beantwortung der Frage, weil wir uns inmitten einer Um­wälzung befin­den. Wir erleben, wie Messaging – mit Whatsapp als Marktführer – zur zentralen Anwendung wird, welche die «offenen» Plattformen relativiert. Die vier bedeutendsten Messenger haben mehr aktive Nutzer als die vier wichtig­sten Sozialen Platt­formen (Facebook, Twitter usw.). Wir können Ash Reads Gedanken aufnehmen (12.4.16, blog.bufferapp.com) und von einer Messengerisierung sprechen. Konkret bedeutet dies: Wer z.B. Twitter nutzt, stellt eine Form von „Öffentlichkeit“ her. Dies bedeutet, sich zu exponieren. Für viele ist dies zu riskant. Sie entziehen sich den «offenen» Plattformen. Im Trend liegen Whatsapp-Gruppen. Ob Fussballfans, politische Zirkel, Nachbar­schaften, Schul­freunde, Studienzirkel, Clubs: in geschlos­senen Gruppen entfaltet sich der Mut zur Profilierung. Ein Trend mit Fol­gen:

  • Debatten verlagern sich in kleingruppenbezogene soziale Nischen.
  • Diskutiert wird hinter «verschlossener Tür», abgedun­kelte Zonen des Sozialen entstehen, ein eigentliches Darknet.
  • „Offene“ Plattformen drohen zu Verlautbarungsinstrumenten zu verkommen, die mehr und mehr Werbe­smog produzieren.

Appell, Warnung, Verhinderung: Weder das kulturpessimistische «Lösungsdreieck» noch die «Sicher­­heitsesoterik» aufgeschreckter Politakteure bringen uns weiter. Das Risiko der Risikovermeidung ist zu gross.

Sinnvoller ist die Frage, wie das nicht ausgeschöpfte Potenzial Sozialer Medien bei der Überwindung von aktuellen Problemen genutzt werden kann: für politisches Engagement, das neue Formen der Bürger­beteiligung ermöglicht, für die Schaf­fung von Rahmenbedingungen, die soziotechni­sche Innovation be­günstigen, für die gene­ra­tio­nen­­übergreifende Förderung von Medien­kompe­tenz.

Die gute und die schlechte Nachricht lassen sich in einem Satz ausdrücken, den Luhmann ähnlich formu­lierte: «Die Welt» wird besser und schlechter gleichzeitig.

In leicht gekürzter Form am 1.9.2016 im Pfarreiforum, St. Gallen, erschienen (Redaktion Stephan Sigg).