Dieser Artikel von Reto Eugster ist im Entwickler-Magazin WordPress im November 2017 erschienen. Er wird hier nochmals neu aufgelegt, und zwar im Hinblick auf die Veranstaltung Wissenschaftliches Schreiben (Oktober 2021).

Wissenschaftliche Artikel durchlaufen ein Verfahren der Qualitätssicherung, bevor sie in Fach­zeitschriften publiziert werden. Fachinterne Gutachterinnen und Gutachter bewerten die Quali­tät eines Textes. Peer-Review heisst das Verfahren, welches seit dem 17. Jahrhundert existiert und erstmals für das Journal Philosophical Transactions in London genutzt wurde.

Allerdings sind seit den frühen Jahren Fehlurteile bekannt. Beispielsweise wurde als Folge eines Peer-Re­view-Resultats im 18. Jahrhundert ein bahnbrechender Artikel über die Pocken-Krankheit nicht publiziert. Mit dem Aufkommen der Weblogs und einer wissenschaftsnahen Blogosphere war die Hoffnung verbunden, Artikel nun niederschwellig zugänglich zu machen. In einem trans­parenten Dis­kurs sollte die Science Community Texte diskutieren, bewerten und teilen können. Was ist aus diesen Hoffnungen geworden? In welcher Form kann das wissenschaftliche Bloggen eine Zukunft haben? Im Brennpunkt ist die deutschsprachige Blog-Szene.

In einer Zeit, deren Spuren heute noch sichtbar sind, glaubten vor allem Nachwuchskräfte un­terschiedlicher Wissenschaften eine neue qualitätssichernde Form der Zirkulation wissen­schaftlichen Wissens gefunden zu haben. Die Tätigkeit des Bloggens, die Ver­messung wissen­schaftlicher Ergebnisse in der „offenen“ Debatte, schien zu einem Ausweg aus der Starre intrans­parenter Verfahren und zum Königsweg der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung zu werden. Der Gestus der Kritik an altgedienten Wissenschaftspraktiken war unverkennbar.

In jener fernen Zeit verwiesen die 140-Zeichen-Schnipsel bei Twitter nicht selten auf Weblog-Texte. Weblogs waren eine Art Back-End der aufkommenden „Plattformen“. Heute, in einer an­deren Zeit, sind ungezählte Tweets selbstgenügsam formuliert. Sie genügen als blosse Slo­gans, die zu oft nur als Teil von Kampagnen interpretierbar werden.

Doch beginnen wir von vorne. Wer sich als Webflaneur in der Blogosphere umher treibt, trifft auf unterschiedliche Spielarten des wissenschaftlichen Bloggens. Vor allem vier Ausprägungen prägen die real existierende Blog-Szene. Wissenschaftsblogs können verstanden werden als

  1. Form des digitalen Publizierens wissenschaftlicher Erkenntnisse;
  2. Beiträge zur Wissenschaftspolitik;
  3. Journale aus Werkprozessen wissenschaftlichen Arbeitens;
  4. Wissenschaftsvermittlung an ein wissenschaftsfernes Publikum.

Mit jeder dieser Varianten des „wissenschaftlichen“ (nun in Anführungs- und Schlusszeichen) Bloggens gehen unterschiedliche Erwartungen, Risiken und Chancen einher. Darum geht es im Folgenden.

1. Digitales Publizieren wissenschaftlicher Erkenntnisse

Die Grundidee bei dieser Spielart des Bloggens besteht darin, die „klassische“ Qualitätssicher­ung, die organisierte Skepsis der Peers, durch die Einbettung einer Publikation in den offenen, nicht organisierten Community-Diskurs zu ergänzen, teilweise zu ersetzen. Alternativ zum Goldstandard des Peer-Reviews soll die Kraft des offenen, nun sozial regulierten Diskurses quali­tätssichernd wirken. Die Prozessschritte sind gedreht. Nicht Editoren und die von ihnen ge­wählten Peers sind zuerst gefragt, nein: Als Erstes steht die Selbstpublikation an, zweitens die Resonanz der Open Science Community und erst im dritten Akt allenfalls die Publikation des inzwischen weiterentwickelten Artikels im wissenschaftlichen Journal. Dass Blog-Beiträge selten den Weg in die einschlägig­en Journals finden, ist übrigens nicht oder nicht primär eine Frage ihrer Qualität, sondern ein Aspekt des Genres. Blog-Beiträge erzeugen gerade durch ihre Vorläu­figkeit die Anschlüsse für Widerspruch und Zuspruch. Wissenschaftliche Journals jedoch verlangen Er­gebnisse, welche zum Zeitpunkt der Publikation einen wesentlichen Schritt der wissen­schaft­lichen Plausibili­sierung bereits hinter sich haben. Wird ein Text mehrfach, bei verschie­denen Zeitschriften, eingereicht1, kann die Zahl der begutachtenden Peers höher sein als die Zahl der Leserinnen und Leser nach dem Erscheinen des Artikels.

Unbestritten bleibt, dass wissenschaftliche Ergebnisse eines Framings bedürfen, einer Einord­nung in einen diskursiven Zusammenhang. Gerade dies ist Kennzeichen wissen­schaftlichen Argumentierens.

Auf der Basis dieser Kurzanalyse ist es nicht zwingend, den Schritt von Anne Baillot in ihrem Blogbeitrag vom 19.1.20152 nachzuvollziehen und Doktoranden vom Bloggen abzuraten. Aber die Schlussfolgerung liegt nahe, dass sich das wissenschaftliche Publizieren in Form des Blog­gens nicht in dem Masse durchgesetzt hat, wie dies in der euphorischen Pionierphase aufkom­mender Weblog-Communities erwartet wurde. Zwar gibt es Verfahren der wissen­schaftlichen Qualitätsprüfung, die „open“ und „post“ funktionieren, die offene Communities nutzen und nach einer Publikation (Post Publication Reviews) einsetzen. Auch an (vereinzel­ten?) Erfolgs­geschichten mangelt es nicht. Christof Schöch zeichnet in seinem Blogbeitrag vom 19.1.2015 eindrücklich eine solche nach3. Doch diese Alternativen der wissenschaftlichen Qualitäts­sicherung sind in ihrer Breitenwirkung marginal geblieben und finden höchstens in eng­um­grenzten Zirkeln der tendenziell kleiner werdenden Blogosphere Beachtung.

Zu überraschen vermag, dass die Marginalisierung dieser Alternativen trotz des zunehmenden Innovationsdrucks, der auf Hochschulen lastet und der damit ver­bundenen Kritik an den Peer-Review-Verfahren fortschreitet. Traditionelle Peer-Review-Prozesse kommen oft nur schlep­pend voran, sind nicht selten intransparent und führen öfters zu zufälligen Ergebnissen. Vor allem der letzte Kritikpunkt wiegt angesichts des Anspruchs auf Zuverlässig­keit (Relia­bilität) von wissen­schaftlichen Ergebnissen schwer. Wissenschaft­lerinnen und Wissen­schaftler ver­bringen in der Regel zu viel Zeit mit wissenschaftspolitischen Manövern, anstatt sich der For­schung und Lehre zu widmen. Die zunehmende Kritik führt in erster Linie zu Weiterent­wick­lung und Optimierung der Verfahren, nicht zu Kehrtwendungen.

Dies bedeutet abschliessend, dass die in Wissenschaft und Forschung tief verwurzelten Ver­fahren der universitären Deutungseliten durch die Blogosphere nicht wesentlich relati­viert wurden. Social-Peer-Review-Modelle können aber dort interessant werden, wo die organi­sierte fach­kollegiale Deutungselite wenig Tradition hat, zum Beispiel an Fachhoch­schulen.

2. Beiträge zur Wissenschaftspolitik

Diese Funktion des wissenschaftsnahen Bloggens wird an dieser Stelle nicht vertieft. Verkürzt geht es vor allem um die Frage, inwieweit sich Weblogs als Rückgrat politischer Kampagnen mit wissenschaftspolitischer Zielrichtung empfehlen. Angesichts der „Grossplattformen“, die gerade zu Kampagenen-Plattformen mutieren (Stichwort Semantisches Targeting), überwiegt auch hier die Skepsis.

3. Journale aus Werkprozessen wissenschaftlichen Arbeitens

Doch nun, Schluss mit matter Skepsis. Das Format des Weblogs ist nicht in das Zentrum wis­senschaftlichen Publizierens vorgedrungen, empfiehlt sich stattdessen als primäres Begleitfor­mat. Dies bedeutet konkret, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mittels Weblogs ihr kollaboratives Umfeld schaffen, um ihre Werkprozesse zu dynamisieren. Oder zugespitzt und programmatisch formuliert: Durch Wissenschaftsblogs können jene „Werk­räume“ entstehen, die Ausdruck einer sich verändernden Wissenschaftskultur (oder Wissens­kultur) sind. Bei diesen Aussagen habe ich vor allem die Geistes- und Sozialwissen­schaften im Blickfeld (von der naturwissenschaftlichen Szene verstehe ich zu wenig).

Doch wie lassen sich diese „Werkräume“ charakterisieren? Vom Kern des Genres her bieten Weblogs die Möglichkeit, niederschwellig zu publizieren, Argumente „auszuprobieren“, ver­weisungsintensiv zu argumentieren und die Prozesshaftigkeit des wissenschaftlichen Arbei­tens darzustellen. Vorläufiges und Provisorisches steht gleichberechtigt neben „gehärteten“ Aussagen, sich zu irren ist Aspekt des Genres, auf das kollaborative Korrektiv und die Verbind­lichkeit horizontaler Kommunikation zu vertrauen, gehört zur Pointe. Seine Funktion erfüllt das Weblog erst und nur dann, wenn es seine Nischenöffentlichkeit als persönliche Öffentlich­keit mitzuerzeugen vermag. Personifizierung, Authentizität und soziale Eichung (Vertrauens­bildung im Kreis der Freundesfreunde usw.) sind Stichworte dazu. Im Hinblick auf das wissen­schaftsnahe Bloggen wird diese persönliche Öffentlichkeit zur Lern-, bestenfalls zur Faszinati­onsgemeinschaft. Dargestellt werden Lernleistung und „nur“ indirekt Visitenkarten wissen­schaftlichen Erfolgs.

Persönliche Öffentlichkeit, das meint auch, Werkprozesse im Hinblick auf Personen, hier Wis­senschaftlerinnen und Wissenschaftler, darzustellen. Die Konsequenzen daraus sind unter an­derem, dass

  • sich die Relevanz des Textes erst im Kontext der miterzeugten Öffentlichkeit bildet;
  • die Resonanzfähigkeit von Beiträgen zum Massstab des Publizierens wird (Kommentare­ auf Kommentare);
  • mit einem Prozess sozialer Differenzierung, z. B. mit Rollenbildung (z.B. „Querdenker“, „Spielverderber“, „Experte“ usw.) zu rechnen ist;
  • Kontinuität und Stabilität des Netzwerks wichtig werden.

Bereits mit geringem Aufwand an soziologischer Theorie wird deutlich, dass die Entwicklung persönlicher Öffentlichkeiten zu Lerngemein­schaften ein anforderungsreicher Prozess ist. Com­munities entwickeln Praktiken und Routinen der „Eichung“ von Vertrauenswürdigkeit und Vertrauensfähgikeit. Letztlich ist der Umgang mit den Freundesfreunden gemeint, der zum Schlüssel der Netzwerkerweiterung wird.
Das Weblog aufzuschalten, ist der kleinste und vermutlich unbedeutendste Schritt. Dass Tools wie WordPress dies in wenigen Schritten kostengünstig ermöglichen, legt die Versuchung nahe, mit „Technik“ zu beginnen.

4. Wissenschaftsvermittlung an ein wissenschaftsfernes Publikum

„Wenn Bloggen (…) keine wissenschaftliche Anerkennung findet, warum sollte man das Medium (…) nicht stattdessen (…) dazu nutzen, Forschungsthemen für eine grössere Interessengruppe zu­gänglich zu machen?“, fragt Angelika Schoder in ihrem Blogbeitrag „Wissenschaftliches Blog­gen mit Monty Python“ (Juni 20174). Eine solche Überlegung ist Nahe liegend, bringt jedoch zwangsläufig die Anschlussfrage mit sich: Sind Weblogs geeignet, die dafür nötige Aufmerk­samkeit einer „breiten Öffentlichkeit“ zu binden? In Schoders Begriff der „grösseren Interes­sengruppe“, der Idee einer „breiten Öffentlichkeit“, liegt das Problem. Vis-à-Vis eines solchen Anspruchs müssen Weblogs „versagen“. Weblogs sind in erster Linie Community-Generatoren und sekundär Publikationsplattformen. Sie schaffen erst die persönliche Öffentlichkeit, welche sie schliesslich voraussetzen. Ihr „natürlicher“ Lebensraum ist die soziale Nische.

Da die meisten Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen ihre Zukunft nicht in Forschung und Lehre sehen, kann es im Hinblick auf deren berufliche Perspektive empfehl­enswert sein, sich nicht an den Insidern des Fachs, an den Peers, zu orientieren. Die Vermitt­lung von Wissen­schaft gegenüber einem „breiteren Publikum“ bietet Profilierungschancen und führt in der Re­gel nahe an den Wissenschafts­journalismus heran5. Damit verbunden ist in der Regel eine Abkehr vom Blog-Genre.

Ein Fazit in drei Akten

1. Weblogs können zum primären Begleitformat des wissenschaftlichen Arbeitens wer­den, vermögen das soziale Umfeld für einen Werkprozess zu schaffen. Der Anspruch, dass sie „klassische“ Formen der wissenschaftlichen Qualitätssicherung mehr als bloss relativieren, also kompensieren, ist nicht durchsetzbar. Die Spezifika einer „Blog-Kul­tur“, z. B. die strikt vertikale Kommunikation, die Legitimation zur Vorläufigkeit, die Werkprozessorientierung usw., würden einen grundlegenden Wandel auch der Kultur des akademisch-wissenschaftlichen Apparats voraussetzen (und bewirken).

2. Das Blog als blosses Publikationsformat zu sehen, ist zu eng gedacht. Vielmehr ist es in erster Linie ein Community-Generator und nur insofern und insoweit erfolgreich, als es sein Publikum auch tatsächlich erzeugt. Dies kann nicht darüber hinweg täuschen, dass andere Formen der webbasierten kollaborativen Bewertung wissenschaftlicher Arbei­ten an Bedeutung gewinnen werden. Allein die Menge der Neuerscheinungen ist Grund genug, dies zu anzunehmen.

3. Eine persönliche Öffentlichkeit bildet sich im Matching zwischen den Anorderungen des Werkprozesses und den Erwartungen der Community. Erst wenn zudem eine ge­wisse Transferdichte erreicht wird, wenn Kommentare auf Kommentare folgen, ge­lingt dies. In Prozessen der „sozialen Eichung“ erweitert sich ein Netzwerk, mittels kom­munikativer Praktiken, einer Art Mikropolitik, werden Vertrauenswürdigkeit und Vertrauensfähigkeit der Freundes­freunde geprüft.

Joel Spolsky, CEO Fog Creek, Software-Entwickler und Blogger der ersten Stunde, hat sich vertieft mit Fragen des Community-Buildings befasst. Von ihm gibt es einiges zu lernen. Einerseits entwickeln sich Communities hochgradig eigendynamisch (lokal, situativ, ko­evolutiv), anderseits erfordert Community Design die soziale Rahmung dieses Prozesses, ein ständiges Reframing. In diesem Spannungsfeld zwischen Eigendynamik und Gestaltungs­ansprüchen müssen sich Methoden der Community-Entwicklung bewähren.

Dies kann auf einen kurzen Nenner gebracht werden: Es ist das soziale Geschehen, welches das Spiel mit Weblogs herausfordernd und – wie soll ich sagen? – fulminant macht. Der Rest ist WordPress.

Reto Eugster: Prof. Dr., ist Leiter des interdisziplinären Weiterbildungszentrums der Hochschule für Angewandte Wissenschaften St.Gallen/Schweiz. Er ist Gründer und Leiter des Master­studiums Social Informatics und Gründungsmitglied der Blogwerkstatt Ostschweiz: www.retoeugster.chwww.fhsg.ch/weiterbildung