Von Reto Eugster (*)

Zu „Massen-Eremiten“ würde uns das Fernsehen machen, warnte Günther Anders in den 50er Jahren. Das Fernsehen erzeuge die Form des Teilhabens ohne Teilnahme. Als passive Emp­fänger sind wir vor dem Fern­seher «dabei», am Fussballspiel oder am Gottesdienst, und blei­ben Abwesende. Die Kritik am Einbahn­prinzip des Fernsehens ist alt. Heute, in der Zeit des mobilen Internets, erleben wir den „Zwang“ zur Inter­aktion. Ein Smartphone ist auf Austausch hin angelegt.

Mit den Sozialen Medien verabschieden wir uns von der Empfängerrolle. Nun gestalten wir ein Ereignis wie den Amoklauf von München mit. Wir erzeugen Ängste, Gerüchte und Meinungen. Täter planen ihre Tat unter Berücksichtigung unserer aktiven Mitarbeit.

Bevor die Polizei am Tatort in München ermitteln konnte, kursierte in den Sozialen Medien ein Tatortfoto. Die Aufnah­me wirkte dra­mati­sierend – und erwies sich als Fake. Die Meldung «Schüsse im Zentrum Mün­chens» löste Panik aus. Auch sie war falsch, brachte aber die Grossstadt in Wallung. Ein Polizei­sprecher sprach vom «Problem der Angst». Er fragte sich, wie den aufgeschäumten Ängsten der nicht unmittelbar Betrof­fenen beizukommen ist.

Was tun? Eine einfache und schwierige Frage zugleich.

Einfach: Bei der Aneignung Sozialer Medien müssen wir lernen, Information mediengerecht zu deuten. Soziale Medien verlangen eine soziale Lesart, verlangen «Vertrauensfilter». Es geht um den Prozess der „sozialen Eichung“. Um die Vertrauenswürdigkeit von Freundesfreunden – und letztlich ihrer Beiträge – zu «testen», sind andere Kriterien nötig als bei einem journalistischen Text. Medien­kompetenz ist gefragt.

Schwierig ist die Beantwortung der Frage, weil wir uns inmitten einer Um­wälzung befin­den. Wir erleben, wie Messaging – mit Whatsapp als Marktführer – zur zentralen Anwendung wird, welche die «offenen» Plattformen relativiert. Die vier bedeutendsten Messenger haben mehr aktive Nutzer als die vier wichtig­sten Sozialen Platt­formen (Facebook, Twitter usw.). Wir können Ash Reads Gedanken aufnehmen (12.4.16, blog.bufferapp.com) und von einer Messengerisierung sprechen. Konkret bedeutet dies: Wer z.B. Twitter nutzt, stellt eine Form von „Öffentlichkeit“ her. Dies bedeutet, sich zu exponieren. Für viele ist dies zu riskant. Sie entziehen sich den «offenen» Plattformen. Im Trend liegen Whatsapp-Gruppen. Ob Fussballfans, politische Zirkel, Nachbar­schaften, Schul­freunde, Studienzirkel, Clubs: in geschlos­senen Gruppen entfaltet sich der Mut zur Profilierung. Ein Trend mit Fol­gen:

  • Debatten verlagern sich in kleingruppenbezogene soziale Nischen.
  • Diskutiert wird hinter «verschlossener Tür», abgedun­kelte Zonen des Sozialen entstehen, ein eigentliches Darknet.
  • „Offene“ Plattformen drohen zu Verlautbarungsinstrumenten zu verkommen, die mehr und mehr Werbe­smog produzieren.

Appell, Warnung, Verhinderung: Weder das kulturpessimistische «Lösungsdreieck» noch die «Sicher­­heitsesoterik» aufgeschreckter Politakteure bringen uns weiter. Das Risiko der Risikovermeidung ist zu gross.

Sinnvoller ist die Frage, wie das nicht ausgeschöpfte Potenzial Sozialer Medien bei der Überwindung von aktuellen Problemen genutzt werden kann: für politisches Engagement, das neue Formen der Bürger­beteiligung ermöglicht, für die Schaf­fung von Rahmenbedingungen, die soziotechni­sche Innovation be­günstigen, für die gene­ra­tio­nen­­übergreifende Förderung von Medien­kompe­tenz.

Die gute und die schlechte Nachricht lassen sich in einem Satz ausdrücken, den Luhmann ähnlich formu­lierte: «Die Welt» wird besser und schlechter gleichzeitig.

In leicht gekürzter Form am 1.9.2016 im Pfarreiforum, St. Gallen, erschienen (Redaktion Stephan Sigg).