4 Schritte zur Pflege von Wissenslandschaften – Von Reto Eugster

Handwerklich gesehen bedeutet Wissenschaft zu einem wesentlichen Teil, Wissen (*) zu verarbeiten und im schreibenden Denken weiterzuentwickeln. Schreiben wird zum Instrument des Denkens.

Wenn nun Wissenschaft Wissensaneignung bedeutet, stellt sich die „handwerkliche“ Frage: Wie kann Wissensarbeit organisiert werden? Wie lassen sich Literaturen (unterschiedlichen Typs) rekonstruieren?

Wenig ergiebig ist das Kleben, Sammeln, Archivieren usw. von Notizen. Diese Erfahrung werden die meisten hinter sich haben.

Vielmehr geht es darum, „Wissenslandschaften“ zu gestalten, Neues einzupflegen: zu verorten. Die „handwerkliche“ Seite dieses Prozesses kann wie folgt systematisiert (vereinfacht dargestellt) werden, und zwar in vier Schritten, Wir haben dieses Modell im Rahmen unserer Textwerkstatt wissenschaftliches Schreiben (Lerngemeinschaft OS) entwickelt:

In einem ersten Schritt ist es wichtig, vorgängig Fragen an den Text zu formulieren. Dabei kommt es zur Selbstvergewisserung bzw. zur Vergewisserung des Vorverständnisses. Dieser erste Schritt schafft die Voraussetzung, um sich vom Text überraschen zu lassen. Die Abweichung von der Erwartungen wird deutlich.

Zweiter Schritt: Erarbeitung von Notizen zum Text in drei Dimensionen; a) Referenzdaten (Metadaten), b) inhaltliche Aspekte, c) „Evergreens“. Damit sind Textaussagen gemeint, die über den Kontext der verarbeiteten Literatur hinaus bedeutsam sein können.

Dritter Schritt: Die Schritte zwei und drei sind praktisch kaum zu trennen. Denn während des Erfassens – und dies ist die Pointe – wird der neue Eintrag kontextualisiert, in der bestehenden Wissenslandschaft verortet. Dies bedeutet: Notizen werden verlinkt, Blöcke (Notizabschnitte) ineinander verschachtelt, Hub Pages (Einstiegstore in die Wissenslandschaft) entstehen, Tags verbinden quer über alle anderen Kategorisierungen hinweg Aussagen miteinander. Dabei hilft in der Regel der heute (fast schon) übliche Knowledge Graph. Dieser ermöglicht die Visualisierung von Verknüpfungen, wobei gefiltert und gruppiert werden kann (siehe z.B. www.obsidian.md)

Vierter Schritt: Immer dann, wenn ich einer Notiz später lesend „begegne“, überlege ich mir, ob ich mit zeitlichem Abstand nun in der Lage bin, diese a) zu ergänzen, b) zu paraphrasieren und/oder c) zu kommentieren. Vor allem dem Kommentieren kommt eine wichtige Funktion zu. Die Notiz wird sich – in diesem vierten Schritt – nach und nach weiterentwickeln. Dies trägt wesentlich zum Prozess der Wissensaneignung bei. Wissensaneignung kommt nicht über das blosse Zusammenfassen, sondern als ständiger aktiver Prozess zustande.

Es wird klar geworden sein, dass bei diesem Workflow kein Tool hilfreich ist, das wie ein elektronischer „Aktenschrank“ funktioniert. Ein Beispiel dafür wäre Evernote. Es braucht Hilfsmittel der neuen Generation, wie zum Beispiel Obsidian, Roam Research, RemNote, Zettlr (oder noch in sehr frühem Stadium Athens Research und Logseq).

Wir setzen dieses Modell in verschiedenen Zusammenhängen ein, unter anderem in einem Masterprogramm. Zudem bieten wir das Seminar Textwerkstatt wissenschaftliches Schreiben an (zurzeit ausgebucht).

(*) Es ist mir klar, dass der Wissensbegriff hier nicht mit der ansonsten nötigen Begriffspräzisierung verwendet wird.